„1. April“ – das weltweite Spiel

Es ist wieder „2. April“ und (wie nicht anders zu erwarten) „3. April“ geworden. Auch dies gehört zum Spiel „1. April“. Es sind die Tage nach dem großen Spiel. Wir haben mitgespielt als Scherzer („Heute ist doch tatsächlich …“), als Leser („Interessante Geschichte …“), als „Aufdecker“ („Ja, das war …“) und als Denunzianten („Wie kann man so etwas nur glauben?“). Wir haben mitgemacht, ob wir wollten oder nicht und tun es vielleicht immer noch.  Das Spiel ist mehrfach gesichert und eingesperrt in seinen „Magic Circle“, der ununterbrochen gesellschaftlich reproduziert wird und dies auf verschiedenen Ebenen.
Magic Circle und Kontrolle
Das Spiel ist zeitlich begrenzt: Es dauert einen Kalendertag und ist wie Karneval im „Gesellschaftsspiel“ verortet und in einer absoluten Zeitleiste eingeordnet. Es ist sozial klar definiert: Alle Beteiligten wissen oder wüssten, dass das Spiel gespielt wird an diesem Tag. Das Spiel ermöglicht das Unbewusste der Gesellschaft zu spielen. Für einen Tag wird es möglich, zu schwindeln, zu betrügen und zu denunzieren. Das Spiel hintergeht damit die Grundlagen „unserer“ differenzierten (und letztlich wissenschaftlichen) Gesellschaft mit ihren Anforderungen wie Eineindeutigkeit, Klarheit, Sicherheit und damit auch „Kontrollierbarkeit“. Das Spiel „1. April“ ist ein Spiel mit der Differenz „Sicherheit/Unsicherheit“. An diesem 1. April ist die Welt „von Haus aus“ unsicher.
Naive Ansicht: ein kritisches Spiel
Auf der positivistischen Ebene (und damit gesellschaftlich geförderten Ebene) geht es bei diesem Verunsicherungsspiel um ein Kritikspiel und Kreativspiel, das Spaß macht. Es ist wie viele Spiele ein gesellschaftliches Tabula-Rasa-Spiel. Jeder kann über alle Stufen und Systeme hinweg mitspielen, gespielt wird auch mit jedem erdenklichen gesellschaftlichen Inhalt von persönlich bis systeminhärent. Es ist vermutlich eines der größten (Kreativ-) Spiele (Game 2.0), das Weltweit von allen Leuten (über alle Altersklassen an einem Tag) gespielt wird. Es zeigt, wie Informationen entstehen, wie sie verbreitet werden, wie sie aufgenommen werden. Es wird klar, dass Informationen eigentlich nur glaubwürdig sein müssen, um akzeptiert zu werden. Oder anders gesagt: „Sind Informationen im System anschließbar, so werden sie auch integriert.“ Es geht also indirekt auch um die Frage: „Was ist möglich in unserer Gesellschaft?“
Die Rolle vom „1. April“ im westlichen Gesellschaftsspiel Kapitalismus
Auf der kritischen Ebene ist das Spiel ein Machtinstrument. Als Dispositiv der Macht verunsichert es für einen Tag die Mitspieler. Es sichert dem System darüber hinaus das muntere Mitmachen in den anderen 364 Tagen. Die Mitspieler lernen im Spiel, wie die Regeln funktionieren, was das System ihnen für Arbeit abnimmt und sie damit „entlastet“. Am „2. April“ kann man sich wieder darauf verlassen, was in der Tageszeitung steht. Das Serious Game „1. April“ funktioniert (es ist spassig) und stützt die Gesellschaft mit ihren Subsystemen, die Informationen „liefern“ wie Wissenschaft oder Recht. Auf der Mikroebene ist das Spiel noch viel effektiver. Auf der einen Seite kann jeder mitmachen und Ideen kreieren, auf der anderen Seite wird sofort klar, wer über mehr Bildung, mehr Informationen verfügt. Am Mittagstisch werden dann soziale Hierarchien „entlarvt“ oder umgekehrt wird tragischer klar, dass die Gesellschaft eben nicht nach dem Prinzip von Wissen (und Leistung) funktioniert sondern über menschliche Netzwerke. (Wer lacht schon seinen Chef aus?)
Gesellschaft und „Alternate Reality“-Games
Das Spiel „1. April“ ist mit den Jahren wichtiger geworden. Dies zeigt die Beibehaltung des Spiels sowie seine zunehmende Standardisierung in den letzten 300-400 Jahren. Im Spiel wird es möglich die „westlichen Gesellschaft“ zu spielen und etwas darüber zu lernen, darin handlungsfähiger zu werden. Spannenderweise ist beim „1. April“ das Spiel unklarer als die „Realität“. Die Realität erscheint geradezu als differenziertes Paradies. Das Spiel „1. April“ ist damit ein Basismodell für alle anderen „Alternate Reality Games“. Es zeigt auf, dass die Gesellschaft die Spiele als Verunsicherungspiele fördert, einbaut und nutzt. Alternate Reality Games lassen sich in diesem Sinn genau gleich sozialisieren wie herkömmliche Spiele, sie stützen die Realität über ihre Gamemechanik, ihre visuelle Welt.
P.M.Ong
(Erschienen am 4.4.2010 in der Spielkultur-Maillingliste)

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