Elite und Lamer – Eine Replik zum Kurzkommentar zum SRF-Digital-Podcast

Gleb J. Albert (Universität Luzern)

Dass ein Podcast direkt zu Reflexionen Anlass gibt, ist sehr erfreulich. Dem Kommentar von René Bauer zu der „neuen Elite“, als die sich die Cracker- und Demoszene sah (und es auch im gewissen Sinne objektiv war), kann ich vollumfänglich zustimmen, kann mir jedoch einen kleinen Kommentar nicht verkneifen – nicht zuletzt, um meine eigenen Gedanken zu sortieren für ein Buchkapitel, das ich gerade schreibe und das sich um ebenjenen Eliten-Diskurs in der Szene dreht. 

Das neue Universalmedium Heimcomputer, das die Erwachsenenwelt jenseits der Berichterstattung und allgemeinen Diskussionen um Technikfolgen nur oberflächlich interessierte, war zunächst einmal eine Domäne einer enthusiastischen Jugend. Sie hatte in der Tat „nichts zu erben“, auch nicht von den Akteuren der Grossrechner-Ära. Die in der Erwachsenenwelt geführten erhitzten Debatten um Mikrocomputer als Zivilisationsuntergang, Verführung der Jugend durch den militärindustriellen Komplex etc. tangierten sie nicht – sie machten einfach, und das oftmals virtuos. Das sahen auch prominente Computerkritiker wie Joseph Weizenbaum, der sich 1984 zum Umstand äusserte, dass Jugendliche, zum Erstaunen vieler Erwachsener, souveräner mit Computern umgingen als sie selbst. Dies sei, so Weizenbaum, „nicht weiter erstaunlich, denn Kinder haben mehr Zeit  und mehr Geduld für solche Sachen, und dazu sind sie der Verantwortung noch ganz enthoben. Für Kinder ist es einfach ein neues Spielzeug.  Es plagen sie keine Bedenken.“[1]

Bedenken plagten sie in der Tat keine. Aber mehr als ein „neues Spielzeug“ war es schon. Den Jugendlichen war klar, dass sie mit ihren „Spielereien“ ihre eigene Zukunft aufbauten – auf einem Feld, das ihnen offenstand und das die Erwachsenenwelt nicht für sich vereinnahmen konnte. Die Arbeitswelt ihrer Elterngeneration schien Anfang der 1980er am Boden zu liegen, der Fordismus war Geschichte, zugleich war bereits ab Mitte der 1970er Jahre im öffentlichen Diskurs immer wieder die Rede von der Wundermaschine Computer, die einerseits die alte Welt der Arbeit zerstört (Automatisierung, Arbeitsplatzabbau), andererseits aber es dem Individuum möglich machen soll, die postfordistische Wende zu überleben und dabei sogar zu reüssieren. Mit ihren Heimcomputer hatten die Jugendlichen das Gefühl, diese vielbeschworene Maschine Computer aufzäumen zu können, um rittlings ins neue digitale Zeitalter zu gelangen und so auch bereits als Teenager ihren Eltern weit voraus zu sein. Wie ein Jugendlicher in einem SPIEGEL-Interview übermutig verkündete: „Ich möchte später nicht am Fließband irgendwelche Eierchen zusammenklatschen, sondern möglichst mein Geld mit Programmen verdienen.“[2] Die Motivation der Computerkids, den Computer auch im Hinblick auf ihre (nicht zuletzt materielle) Zukunftsabsicherung beherrschen zu können, hielt auch die zeitgenössische Sozialwissenschaft fest, die sich mit dem Phänomen jugendlicher Computerbegeisterung beschäftigte. Mit dem Heimcomputer erlangten die Jugendlichen „ein Doppelticket: Eins für das kognitive Erwachsenwerden und einen Zukunftsscheck für das spätere ‚Fünf-Sterne-Leben‘.“[3]

Zahlreichen Computerkids, die bereits im Teenage-Alter ihr Hobby zu Geld machen konnte, etwa als Spieleprogrammierer, konnten in der Tat ein für ihre Verhältnisse ‚Fünf-Sterne-Leben‘ erreichen, noch bevor sie im Erwachsenenleben standen. Im Heimcomputermilieu formierten sie eine ‚neue Elite‘, zu der Hunderttausende jugendliche (und auch erwachsene) Computerbesitzer hinaufschauen konnten. Diese Gruppe der jugendlichen Computer-Entrepreneure überschnitt sich häufig mit dem Personal der Cracker- und Demoszene – allerdings nicht immer. Die Währung im Heimcomputermilieu war nicht nur Geld, sondern auch Skills und Informationsbesitz. Die Protagonisten der Cracker- und später auch der Demoszene bildeten eine Elite gegenüber der Masse der ‚normalen‘ Heimcomputernutzer, und dies auf vielen Ebenen: durch ihre Tauschnetzwerke hatte sie unschlagbar schnellen Zugang zu neuen Spielen; sie konnte Software ‚von innen‘ begehen, Kopierschutzmechanismen aushebeln, Sprites und Soundtracks aus Spielen extrahieren und sie in Akten frühdigitaler Bricolage zu neuen Spielen und ersten Demos zusammensetzen; schließlich konnte sie dank zunächst intern zirkuliertem Wissen aufregenden Code, Grafik und Sound kreieren und damit das Monopol der Software-Firmen auf das Sich-Einschreiben in den heimischen Bildschirm durchbrechen. All dies machte die ‚Szene‘ zu einer äusserst attraktiven Subkultur für jugendliche Computerenthusiasten, die zu Vielem bereit waren, um dieser Elite angehören zu dürfen.

Allerdings – und hierin liegt mein kleiner Einwand zu Renés Kommentar – erschöpft sich der zeitgenössische ‚Elite‘-Diskurs im Heimcomputerfeld nicht in dieser allgemeineren Feststellung. Der ‚Elite‘-Diskurs innerhalb der Cracker- und Demoszene, auf den ich im Podcast zu sprechen kam, hatte noch eine weitere und für die ‚Szene‘ viel wichtigere Funktion, nämlich die Stratifizierung innerhalb der Subkultur. Die Figur der ‚Elite‘ ist, wie Markku Reunanen und Antti Silvast bereits vor einer Weile festgehalten haben, ohne die Figur des ‚Lamers‘ nicht denkbar.[4] Der Lamer ist nicht der Aussenstehende, nicht der ‚einfache‘ Konsument geknackter Spiele. Er ist vielmehr das ‚lahme‘ Szenemitglied, derjenige, der nicht oder schlecht cracken oder programmieren kann, der nicht die besten und internationalsten Kontakte hat, dessen Tauschmaterial nicht Tage, sondern Monate alt ist; jemand, der sich vielleicht redlich bemüht, aber eben nicht heranreicht an die selbstproklamierte Elite innerhalb der ‚Szene‘. Die Dichotomie „Elite – Lamer“ war der unbarmherzige Gatekeeper dieser digitalen Subkultur, die Neulingen alles andere als aufgeschlossen gegenübertrat. Jeder, der einen Fuß in sie setzte, war zunächst einmal ein Lamer (es sei denn, er konnte dank angeborener Skills bereits beim Debüt brillieren), und wurde entsprechend behandelt. Viele spornte die raue (Un-)Willkommenskultur der ‚Szene‘ umso mehr an, sich Skills anzueignen, um den Lamer-Status möglichst rasch verlassen zu können und die meritokratische Leiter emporzusteigen, die im Idealfall in die Ränge der ‚Elite‘ führen konnte. Viele andere jedoch wurden abgeschreckt, vergrault, vertrieben. Auch solche, die vielleicht andere, unkonventionelle Zugänge in die ‚Szene‘ gebracht hätten. Auch die Mehrheit der ohnehin ausserordentlich wenigen Frauen, die sich in diese männlich dominierte Subkultur hineingewagt hatten, scheiterte – darauf deuten zumindest die spärlichen Quellen hin – an dieser elitenzentrierten Hierarchisierung, die jede Neueinsteigerin zunächst einmal auf eine im Grunde bewusst erniedrigende Position stellte. Dies ist die Schattenseite der meriotokratischen Stratifizierung der Cracker- und (zugegebenermaßen im kleineren Ausmaß) der Demoszene gewesen, und auch darüber müsste man reden, bevor man den Elitendiskurs der ‚Szene‘ als Manifestation von Selbstermächtigung und Empowerment einer neuen Generation stilisiert.

Dabei war auch der ‚Elite‘ der Cracker-Szene klar, dass sie ohne die Masse der ‚Lamer‘ diese Position gar nicht für sich in Anspruch hätten nehmen können. Die ‚Elite‘ in der Szene war keine Eigenschaft für sich, sondern funktionierte nur als soziale Relation: Ohne ‚unten‘ kein ‚oben‘. Bereits 1989 stellte ein Kommentar in einem westdeutschen C64-Crackermagazin im typisch gebrochenen Englisch, der lingua franca der Szene, fest: „Lamer – this word is for the most freaks a horror, cause lamers are not the style like profis. But be true, you need lamers, or? […] Do you think without lamers your group has become so famous like you are now? […] Think about that…“[5] Noch deutlicher brachte es einige Jahre später ein schwedischer Szener mit einer Prise Selbstironie auf den Punkt: „WE LOVE ALL LAMERS, THAT MAKES US FEEL MUCH COOLER THAN WE REALLY ARE!“[6] Und in einer 1992er-Ausgabe des Amiga-Diskmags R.A.W., einem wichtigen Sprachrohr der sich gerade erst aus der Cracker-Szene herausdifferenzierenden Demoszene, appellierte ein Autor an die Elite, dem Lamer eine Chance zu geben:

„Why are lamers lamers? Have you ever thought about that? How do lamers become lamers? […] One day, you gets an letter from a guy who is completely unknown to you. He sends some stuff that’s half a month old. He writes a stupid letter, and you (elite as you are) understand that he’s a new guy in the scene. He isn’t in any group either, so you think, ‚This one is a REAL lamer‘, and then you keep his disk and start spread shit about this poor guy, and then forget about the whole thing. But do you [think] this guy forgets this? Maybe, maybe not! If you spread shit about this guy, not many wants to swap with him, as everyone thinks he’s a lamer. When this guy discover[s] that nobody wants to swap with him, he maybe decides to quit the scene. Maybe he was lamer in your opinion, but that doesn’t mean that he IS a lamer. Maybe he is good at painting, or making music, coding or anything else. But nobody will ever know about this, as you spread shit about this poor guy to a lot of others, who then also thought he was a lamer. If you do this, the scene will slowly die, as all ELITE guys doesn’t bother with the new lame guys and no new guys will dare to enter the scene.“[7]

Dieser Kommentar bringt die Selbstreflexion der Szene bezüglich ihrer elitenzentrierten Stratifizierung auf den Punkt: 

1) Der Status des ‚Lamers‘ (und damit auch implizit der ‚Elite‘) ist in erster Linie eine Zuschreibung, nicht notwendigerweise eine objektive Tatsache; 

2) Diese Zuschreibung funktioniert als übermässig strenger (und damit auch für die meritokratische Struktur der Subkultur destruktiver) Gatekeeper – es reicht, dass ein Mitglied der selbsternannten Elite den Neuling als ‚Lamer‘ qualifiziert, um ihm jedes weitere Vorankommen in der Szene zu verunmöglichen;

3) Dieser Zustand ist in letzter Konsequenz fatal für die Reproduktion der Subkultur, da die ‚Elite‘ sich damit gegen jeden Nachwuchs verbarrikadiert.

Diese Selbstreflexivität in der Elite-vs.-Lamer-Frage hat in der Tendenz dazu geführt, dass die Demoszene sich im Vergleich zur ‚alten‘ Cracker-Szene stärker neuen Mitgliedern geöffnet und die Wissenszirkulation offener gestaltet hat – ein Aspekt, dem sie möglicherweise ihr Überleben von den späten 1980er Jahren bis in die Jetztzeit mit zu verdanken hat.

Was für Konsequenzen haben aber diese Einsichten für eine historische Auseinandersetzung mit der Cracker- und Demoszene? Die Zentralität sowohl der diskursiven ‚Lamer‘-Figur für den ‚Elite‘-Diskurs als auch der realen, zahlreichen Protagonisten in den unteren Rängen und an den äußeren Rändern der Szene für die Reproduktion dieser Subkultur bedeutet, dass wir uns viel stärker den ‚average guys‘ in der Szene, ihren Geschichten und Erfahrungen zuwenden müsen. Wie Markku Reunanen vor einiger Zeit feststellte, trägt der Elitenkult der Szene, der sich natürlich auch in den szeneinternen Erinnerungspraktiken, auch in Zeitzeugeninterviews, niederschlägt, dazu bei, dass Forschende diesen Bias reproduzieren und ihren Fokus auf die ‚Elite‘ setzen, wenn sie die Strukturen und Praktiken dieser Subkultur analysieren.[8] Dies hat nicht nur mit den Erinnerungs- sondern auch mit den Archivierungspraktiken zu tun: Von Protagonisten an den Rändern der Subkultur produzierte Artefakte erhielten zeitgenössisch weniger (oder manchmal auch gar keine) Verbreitung, daher sind sie oftmals nur lückenhaft überliefert. Es wäre also auch eine wichtige Aufgabe, von ‚Lamern‘ produzierte Quellen gezielt ausfindig zu machen,[9] um sich ein ganzheitliches Bild von der Szene zu machen und die eigene Forschungsagenda nicht komplett in den Dienst des szeneinternen Eliten-Kults zu stellen.


[1] Joseph Weizenbaum und Bernhard Moosbrugger, Kurs auf den Eisberg, oder, Nur das Wunder wird uns retten, sagt der Computerexperte (Zürich: Pendo, 1984), 58.

[2] „‚Ich beherrsche, was andere nicht können.‘ SPIEGEL-Interview mit jugendlichen Computer-Fans über Spaß und Geschäft“, DER SPIEGEL, Nr. 50 (1983): 182–83.

[3] Gerd Paul, „Der Computer in der Alltagswelt von ‚Computerkids‘“, in Schülerinteresse am Computer: Ergebnisse aus Forschung und Praxis, hg. von Wolfgang Sander (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1988), 98.

[4] Markku Reunanen und Antti Silvast, „Demoscene Platforms: A Case Study on the Adoption of Home Computers“, in History of Nordic Computing 2, hg. von John Impagliazzo, Timo Järvi, und Petri Paju (Berlin: Springer, 2009), 299, http://www.kameli.net/demoresearch2/reunanensilvast-hinc2.pdf.

[5] „Anonym, Bremen“, „Lamers Are Welcome?“, Cracknews, Nr. 5 (1989): 12.

[6] Pandora, „The Interview with the Leader of IFFTIC“, The Gothenburg Trader Chart, Nr. 8 (1994), https://demozoo.org/productions/327951/.

[7] Venom, „Give the lamers a chance!“, R.A.W, Nr. 4 (1992).

[8] Markku Reunanen, „How Those Crackers Became Us Demosceners“, WiderScreen, Nr. 1–2 (2014), http://widerscreen.fi/numerot/2014-1-2/crackers-became-us-demosceners/.

[9] Hier kann man die Arbeit der laienbetriebenen Szene-Datenbanken http://www.demozoo.org (plattformübergreifend) und http://www.csdb.dk (C-64) herausstellen, die sich um eine Archivierung von ‚releases‘ unabhängig von ihren technischen und ästhetischen Qualitäten und dem hierarchischen Status ihrer Urheber bemühen. Für das Beispiel eines Korrespondenzarchivs von Personen am äußeren Rand der deutschen Cracker- und Demoszene siehe https://gotpapers.scene.org/?p=2068.

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